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„Musik im Gespräch!“(01/02 2014)

Anna Reitmeier: „Die Musik ist mein Leben“

Anna Reitmeier: „Die Musik ist mein Leben“

Foto: Klaus Betzl

Anna Reitmeier stammt aus Oberbayern, lernte mit sieben Jahren Cello, "verfiel", wie sie sagt, daraufhin in jungen Jahren der Kammermusik und lebt und arbeitet seit zehn Jahren in Essen, wo sie nicht nur an der Folkwang-Universität der Künste Musik studierte, sondern u.a. dem Kunsthaus Essen angehört, Mitglied im Folkwang Kammerorchester Essen ist und 2012 das neue Kammerorchester Ensemble Ruhr gründete. Im intensiven Austausch mit anderen Musikern, Tänzern und Künstlern arbeitet sie regelmäßig und engagiert an genre-übergreifenden, faszinierenden Projekten, über die sie im folgenden Interview erzählt. (www.annareitmeier.de)


Können Sie sich an Ihre früheste Begegnung mit der Musik erinnern?

Erinnern kann ich mich zwar nicht, aber bei meiner Taufe mit fünf Monaten in St. Georgen bei Altenmarkt soll ich zur Überraschung meiner Eltern lauthals mitgesungen haben. Die Toccata in D-Dur von Johann Sebastian Bach für Orgel hatte mich offensichtlich richtig mitgerissen.

Wie verlief Ihre musikalische Entwicklung?

In der Schule spielte ich Blockflöte, in unserem kleinen Dorf sang ich im Kinderchor und begleitete dann später verschiedene Musikgruppen auf dem Cello. Schon von Anfang an erlebte ich das Musikmachen in Gruppen als ein beglückendes Gefühl. Aber: Kein Mensch, weder meine Eltern, noch meine Lehrer, haben jemals Druck auf mich ausgeübt, ich solle mich doch musikalisch betätigen. Ich tat es einfach aus eigenem Antrieb, weil das Musizieren mir von Anfang an viel Freude machte und Erfüllung gab.

Wie kamen Sie zum Cello?

Es war eher ein glücklicher Zufall: Eine Freundin der Familie unterrichtete das Instrument. So konnte ich mich bei Besuchen dort spielerisch mit dem Cello auseinandersetzen. Zunächst, als mir die Möglichkeit zum regelmäßigen Unterricht angeboten wurde, hatte ich erstmal keine Lust dazu. Es war mir klar, das würde "Sitzen" und "Üben" bedeuten, und ich war eher ein Kind mit großem Bewegungs- und Freiheitsdrang. Aber schon nach kürzester Zeit entwickelte sich eine große Treue und Liebe zu "meinem" Cello. Hinzu kamen wertvolle Impulse von Seiten meiner sehr engagierten Lehrer, die mich von Anfang an auch in die Kammermusik einführten. Von meinem 9. bis zum 18. Lebensjahr war der Höhepunkt der Sommerferien immer die heißersehnte Kinder-Kammermusik-Woche der Musikschule Trostberg in traumhaft bayerischer Landschaft. Ich hatte eine wunderbare Zeit dort und schwärmte für die Stücke wie das Schubert-Quintett, Mendelssohn-Oktett und Brahms-Sextett. Der Unterricht fand auf höchstem Niveau statt, und ich freue mich, daß ich all das, was mich zu tiefst geprägt hat, nun wieder zurück- oder weitergeben kann, da ich seit einigen Jahren dort als Dozentin wirke.

Was bedeutet für Sie das Cello - als Instrument?

Das Cello ist für mich ein "Tanzpartner". Durch die typische Haltung beim Spielen lehnt es sich an mich. Aber in umgedreht schöner Weise ebenso: Es existiert eine große Körperlichkeit beim Spielen, wenn das Holz des Cellos beim Spielen schwingt und direkt auf den eigenen Körper trifft. Das ist sehr lebendig! Auch hat mein Instrument (fast wie ein Mensch) seine guten und schlechten Tage. Abhängig von Wetter und Akustik, reagiert es unterschiedlich. Wenn das Instrument mir in unserer Zusammenarbeit seine Stimme "leiht", habe ich die Möglichkeit, in meiner Interpretation zu sprechen. Das gibt mir eine intensive Ausdrucksvielfalt neben der menschlichen Sprache.

Das Ensemble Ruhr spielt auch beim Fototermin in sportlicher Umgebung ohne Dirigent!
Foto: Jan Pauls

Welches Repertoire haben Sie sich bisher erarbeitet?

In den Jahren meines bereichernden Hauptstudiums bei Prof. Xenia Jankovic und Prof. Christoph Richter setzte ich mich mit dem üblichen Repertoire für Cello auseinander wie den bekannten Solokonzerten und Sonaten von J.S. Bach bis etwa Dmitri Shostakovich. Fasziniert vom Akkordeon, erarbeitete ich mir mit einem Studienkollegen parallel dazu ein interessantes Konzertprogramm für beide Instrumente, das Werke wie J.S. Bachs Gambensonaten über Astor Piazollas "Grand Tango" bis zu Sophia Gubaidulinas "In Croce" beinhaltete.

In meinem Aufbaustudium Kammermusik bei Prof. Andreas Reiner an der Folkwang-Universität der Künste Essen bin ich schließlich in meinem persönlichen Himmel gelandet. Der Unterricht war intensiv und fordernd, mein Klaviertrio hatte großes Potenzial, und wir spielten uns quer durch die breite Klaviertrio-Literatur, begeisterten uns für zeitgenössische Werke, spielten auf Wettbewerben und für Stipendien.

Durch die Gründung des "Kammerorchesters Ensemble Ruhr" 2012 (www.ensembleruhr.de) beschäftige ich mich nun auch viel mit Programmkonzeptionen für Kammerorchester. Da wir grundsätzlich ohne Dirigent und gerne spartenübergreifend arbeiten, muß die Auswahl der Literatur gut durchdacht sein. Wir haben mit Werken wie "Die sieben letzten Worte" von J. Haydn, "Musica dolorosa" von Peteris Vasks, "Fratres" von Arvo Pärt, "Three Idylls" von A. Pärt oder den "Variations on a Theme of Frank Bridge" von B. Britten großartige Konzerte gestaltet!

Haben Sie jemals an eine typisch solistische Karriere gedacht?

Nein, das habe ich nie. Ich bin zu Tränen gerührt, wenn ich Interpretationen von Solisten höre, bei denen jeder Ton, jede Artikulation und Phrasierung so natürlich und doch bestechend, eine musikalische Idee wiedergibt. Wie eine wunderbare Skizze, die vom Künstler mit einer Bewegung gezeichnet wurde. Was mich jedoch reizt, ist der Austausch unterschiedlicher Ideen. Es ist das Aufeinanderprallen verschiedener Persönlichkeiten in einem festen Ensemble, welche durch die Besessenheit zusammengehalten werden, in einem Musikstück oder einer Performance eine Sprache zu finden, um zusammen dem "Baby" des Komponisten nahezukommen, um sein Stück zum Leben zu erwecken.

Variationen des Liegens: Performance im Dortmunder U zur Dortmunder Museumsnacht 2012.
Foto: Guntram Walter

Gibt oder gab es Vorbilder für Ihre Arbeit?

All die Menschen, die musikalische wie persönliche Prozesse bei mir ausgelöst haben und es immer noch tun. Das Wunderbare in der Musik ist: Man kommt nie an. Man darf sich immer weiterentwickeln.

Wie entwickelte sich Ihre besondere kammermusikalische Praxis mit bewußten Grenzüberschreitungen in andere Bereiche?

Durch die Verbindung zwischen Musik und Natur, die sich durch meine Herkunft ergibt wie auch durch die regelmäßigen Kammermusik-Wochen in den Bergen. Da wurde gewiß schon früh eine Sehnsucht angelegt. So erklärt sich bestimmt die Gründungsidee meines "Ensembles Unterwegs", das mit außergewöhnlichen Wanderprojekten über Land das Interesse eines breiten Publikums weckt. Hingegen motivierte mich (noch während des Studiums) nach einem absolvierten Akademiejahr in einem A-Orchester die Erfahrung, großen Orchestern mit ihrer (notwendigen) Einweg-Kommunikation eher aus dem Weg zu gehen und lieber mit und in kleineren Ensembles, also kammermusikalisch, zu arbeiten. Diese leben davon, kreative und konstruktive Impulse der einzelnen Mitglieder in die Arbeit und Gesamtkonzeption einer Produktion aufzunehmen. Auch schon während des Studiums habe ich, allerdings außerhalb der Hochschule, Kontakt zu Tänzern oder Theaterproduktionen gesucht, da ich die spartenübergreifende Arbeit immer als sehr lebendig und bereichernd empfunden habe.

Können Sie Ihre Zusammenarbeit mit anderen Musikern, Tänzern und Künstlern kurz erläutern?

Es fiel eben schon der Begriff "Grenzüberschreitung", der sich hier anbietet, aber meine musikalische Arbeit noch nicht umfassend charakterisiert: Ich suche die Grenzüberschreitung natürlich im Austausch mit anderen Künstlern. Es interessiert mich, auch rein körperlich, in Performances die Grenzen der klassischen Cellohaltung zu erweitern oder zu verlassen, um auf der Bühne beweglicher zu sein. Mit einer großen Offenheit und Neugierde versuche ich musikalisch wie inhaltlich, Impulse aus dem Alltag in meine Arbeit einfließen zu lassen. Für mich ist Musik keine abgeschottete Feiertagsveranstaltung, sondern hat ihren Sitz mitten im alltäglichen wie auch künstlerischen Leben. Musik entsteht nicht aus dem Absoluten, sondern immer aus einer Wechsel-Beziehung - gerade auch mit dem Publikum!

Projekt Himmelblau: Hör-Seh-Fühlstücke für die Allerkleinsten in der Düsseldorfer Tonhalle.
Foto: Tonhalle Düsseldorf

Lassen sich aus dieser Grundhaltung Ihre vielen und vielseitigen Projekte ableiten und erklären?

Ja, zum Beispiel unsere Arbeit mit Babys (ab 6 Monate) und Kleinkindern (bis ca. 2 Jahre) im Projekt "Himmelblau" in Ko­ope­ration mit der Düsseldorfer Tonhalle. Nächste Termine: 12. bis 14.02.2014. Es handelt sich dabei um sogenannte "Hör-Seh-Fühlstücke", die wir zusammen mit Alexeider Abad Gonzalez (Tanz u. Percussion), Barbara Schachtner (Gesang) und Sabine Kreiter (Kostüme u. Bühnenbild) mit Konzept und Regie von Stephanie Riemenschneider realisieren. Dabei gehen wir auch auf die Reaktionen der Kleinen ein und integrieren sie in unsere Arbeit. Musik "begreifen" bedeutet hier für die Allerkleinsten, sich klangliche und musikalische "Bälle" zuzuwerfen, sich in Melodien zu wiegen und von Rhythmen ansprechen und tragen zu lassen, kurz - mit allen Sinnen in die zu erfahrende Welt einzutauchen.

Und wie kann man sich dieses Grundprinzip auf der "Extrafahrt" in rumpelnden Straßenbahnen der "Extraschicht" im Ruhrgebiet vorstellen?

Ganz einfach. Die "Extraschicht" ist seit 2001 ein eintägiges, sommerliches Kulturfest in Kern-Städten des Ruhrgebiets. Seit 2011 gehöre ich zum festen Künstlerstamm der "Extrafahrt" im Gesamtkonzept "Extraschicht". Das bedeutet: Schon in den öffentlichen Verkehrsmitteln, welche die Besucher zu den einzelnen Spielorten bringen, wird den Passagieren Kultur geboten. So habe ich zuletzt die Fahrgäste der Straßenbahnlinie 302 zwischen Gelsenkirchen und Bochum nicht nur "bespielt", sondern kam mit diesen Menschen auch immer wieder ins Gespräch. Natürlich nicht mit allen. Manche sind überfordert, wenn da eine Cellistin neben ihnen auf der Bank in der Straßenbahn sitzt und direkt vor der Nase Bach spielt. Aber oft löst die Live-Musik an so ungewohnten Orten bei den Reisenden das Hochgefühl eines außerordentlichen Erlebens aus, das sich dann auch auf mich überträgt.

Ungewohnter Spielort als Extrafahrt: Bach auf dem Cello in der Straßenbahn.
Foto: Privat

Das "Ensemble Unterwegs" musiziert dann wohl in klimatisierten und schnellen Fernzügen quer durch Europa?

(Lacht) Nein, nein! Im Gegenteil: Mit unseren Instrumenten, aber ohne BahnCard, EC-Karte und Handy, machen wir uns als Gruppe (www.ensemble-unterwegs.de) von vier Profi-Musikerinnen (Sopran, Violine, Viola u. Cello) zu Fuß auf den Weg, um jeden Sommer einen gemeinsamen Traum zu verwirklichen: Die Natur als Bühne. Wir sind fasziniert von der Vorstellung, das klassische Podium zu verlassen, um "unterwegs" in ländlichen Gegenden, an begeisternden Orten spontan anzuhalten und zu spielen - z.B. am Waldesrand, in einer urigen Dorfwirtschaft, an einer einsamen Kapelle. Im Gepäck haben wir nur unsere Instrumente, Noten und viel Neugier auf freundschaftliche Nähe zu den Menschen. Da wir unsere Musik in dieser Zeit gegen alles tauschen, was man zum Leben (Essen, Trinken, Schlafplatz) braucht, kommt es zu vielen kleinen Konzerten und inspirierenden privaten Begegnungen mit unserem Publikum. Unter dem Jahr spielen wir dann wieder in Konzertschuhen, fahren mit dem Auto zu Konzertorten, aber erzählen in unseren Gesprächskonzerten von unseren Erlebnissen des Sommers, dieser herrlichen Entschleunigung, mit Musik in der Natur zu sein und machen wunderschöne Musik. Außerhalb der Wandertouren werden wir regelmäßig von offiziellen Konzertreihen und Festivals als auch privaten Einrichtungen wie Kulturreihen in Cafés oder zu Hauskonzerten eingeladen. Den ungezwungenen Stil unserer Gesprächskonzerte schätzt das Publikum sehr.

Das Ensemble Unterwegs: Wo ist bitte die nächste urige Dorfwirtschaft?
Foto: Klaus Betzl

Unser Repertoire besteht aus deutschen Volks- und Kunstliedern. Darunter sind Bearbeitungen von Franz Schubert, Richard Strauß, Engelbert Humperdinck, die bekannten Rückert-Lieder von Gustav Mahler und der fast in Vergessenheit geratene Liederzyklus "Rosenlieder" von Fürst Philipp zu Eulenburg-Hertefeld sowie Kompositionen von W.V. Williams, Benjamin Britten und Gerald Finzi. Seit September 2012 hat das Ensemble auch "Die Winterreise" von Franz Schubert in einer für uns erstellten Bearbeitung von Shane Woodborne im Programm, einem Salzburger Komponisten, mit dem wir eng zusammenarbeiten. Er hat im Auftrag von "Ensemble Unterwegs" komponiert und für unsere Besetzung außerdem Gedichte von Paul Celan vertont.

Sie leben in Essen. Haben Sie vielleicht auch eine institutionelle Widmung an das Ruhrgebiet parat?

Na, bitte, da haben wir doch das "Ensemble Ruhr"! Wir starteten 2012 ein Kammerorchester (www.ensembleruhr.de) mit 18 professionellen Musikern (Streichern) aus der freien Kammermusikszene NRW, die zusammen Streichquartett in erweiterter Form spielen und die Abwertung von Kultur nicht hinnehmen wollen. So etwas gab es hier vorher noch nicht. Wir arbeiten selbstbestimmt und ohne Dirigent, da wir uns - im kammermusikalischen Geist - in jeder Sekunde im Ensemble selbst führen. Die Mitglieder stammen überwiegend aus dem "Revier" oder haben hier studiert und wollen die Menschen, die hier leben und arbeiten mit unserer Kunst erfreuen und ihnen etwas "zurück" geben.

Waldperformance mit Ensemble Cîrconflexe: Live-Malerei im Freien mit kammermusikalischem Geist.
Foto: Julia Bichl

Sie sprechen gern vom "kammermusikalischen Geist" - Läßt sich dieser Geist auch in anderen Formen künstlerischer Zusammenarbeit finden?

Ja, das gibt es auch. Zum Beispiel im und mit unserem "Ensemble Cîrconflexe". Es handelt sich um eine Gruppe (www.circonflexe.biz) von fünf Künstlern - Maler, Bildhauer, Schauspieler, Sänger und Musiker. 2012 gegründet, beschreitet diese Konstellation einen besonders für die bildende Kunst ungewöhnlichen Weg: Im Rahmen einer Einabend-Veranstaltung kommen Live-Malerei, Live-Musik und Schauspiel "unter einem Dach" zusammen - deshalb "cîrconflexe". Besonders das Element der Live-Malerei macht "cîrconflexe" zu einem ungewöhnlichen Ereignis: Was normalerweise hinter verschlossenen Ateliertüren entsteht, entwickelt sich hier in kurzer Zeit ganz offen vor staunenden Augen. Der besagte "kammermusikalische Geist" ist dabei wieder jene künstlerische Selbstbestimmtheit, die auch im "cîrconflexe" anzutreffen ist. Es ist diese Kombination aus Erfahrung, Erkenntnis und Haltung, die in meiner künstlerischen Biografie sehr weit zurück geht. Etwa auch, wenn ich an die Kammermusik-Wochen in meiner Jugend denke - oder sogar bis zu meinem angeblich lautstarken Tauf-Gesang. Vielleicht war das schon ein früher, erster Prototyp von "Himmelblau" in der Düsseldorfer Tonhalle! Wer weiß!


Das Gespräch führte
Prof. Dr. Hartwig Frankenberg