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„Musik im Gespräch!“(07/08 2015)

Elisabeth von Leliwa: Musik und Demenz: „Für die Betroffenen geht es darum, die archaische und ursprünglich heilsame Kraft der Musik wieder erleben zu dürfen!“

Elisabeth von Leliwa: Musik und Demenz: „Für die Betroffenen geht es darum, die archaische und ursprünglich heilsame Kraft der Musik wieder erleben zu dürfen!“

Elisabeth von Leliwa, Musikwissenschaftlerin und Dramaturgin.Foto: Susanne Diesner

Elisabeth von Leliwa ist Musikwissenschaftlerin und Dramaturgin. Sie wurde in Berlin geboren und studierte Musikwissenschaft, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte in Berlin und Köln. Anschließend war sie Dramaturgin der Düsseldorfer Symphoniker und von 1997 bis 2012 Leitende Dramaturgin der Tonhalle Düsseldorf. Seit 2012 arbeitet sie als selbständige Beraterin und wirkt mit bei Projekten wie „Auf Flügeln der Musik - Konzerte für Menschen mit Demenz“. Außerdem ist sie Dozentin am Zentrum für Internationales Kunstmanagement (CIAM) in Köln und Lehrbeauftragte an der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf mit den Schwerpunkten Konzert- und Selbstmanagement sowie Musikwissenschaft. 2012 absolvierte sie eine Ausbildung zum Ganzheitlich Systemischen Coach und Business Coach.

Monika Rydzkowski (Sopran) und Martin Zimny (Gitarre) sorgten für musikalische Gedankenpausen mit Liedern von John Dowland, Joaquin Rodrigo, Gerald Marks, Antonio Carlos Jobim, Piero Trombetta und dem abschließenden, gemeinsam gesungenen Volkslied „Am Brunnen vor dem Tore“. Als mit dem Thema „Musik und Demenz“ erprobte Musiker wurden sie teilweise in das Interview miteinbezogen.

Können Sie sich an Ihre früheste Begegnung mit der Musik erinnern?

Bei mir gibt es kein sogenanntes Erweckungserlebnis mit einem bestimmten Musikstück oder einer bestimmten Situation. Ich bin in einem durchaus musikalischen Elternhaus aufgewachsen. Mein Vater, er wäre ursprünglich gerne Organist geworden, spielte regelmäßig Klavier, vor allem Johann Sebastian Bach. Meine Mutter dagegen spielte und sang eher populäre Klassik - wenn mein Vater nicht zu Hause war. Und irgendwie war es auch das Zimmer mit dem schwarzen Klavier und seinen vielen Tasten. Nur: Wenn ich als kleines Kind darauf drückte, kam dann leider etwas Unbefriedigendes dabei heraus. Das ist etwa meine früheste Erinnerung an Musik. Später dann, als ich neun Jahre alt war, schenkte mir ein Bekannter der Familie eine Schallplatten-Gesamtaufnahme von Giuseppe Verdis Oper „Rigoletto“. Die darauf folgenden Sommerferien habe ich damit verbracht, Tag für Tag davon so viel wie möglich zu hören, bis meine Mutter das leider unterband. Seitdem bin ich der Oper und auch der Vokalmusik immer sehr treu geblieben.

Haben Sie selbst auch mal ein Instrument gespielt?

Ich hatte seit dem neunten Lebensjahr Klavierunterricht. Ich wollte mich ja schließlich nicht mit dem Eindruck zufrieden geben, dass man mit dem schwarzen Kasten nur irgendwie Töne erzeugen kann.

Wie entwickelte sich Ihr Verständnis für Musik?

Da hat mir der Musikunterricht in der Schulzeit sehr viel geboten und gegeben. Auch Musiktheorie gehörte dazu wie Harmonielehre, Generalbass usw. An meinem Gymnasium in Berlin hatten wir drei Musiklehrer, jeweils einen für jede Schulstufe. Auch Chorgesang gehörte zu dieser frühen Musikausbildung. Das war ein sehr intensiver Unterricht, wie man ihn heute wahrscheinlich nicht mehr kennt. Dies führte dann auch konsequenterweise zur Entscheidung für meine Studienfächer. Und da ich gerne Dinge analysiere und theoretisiere, war die Musikwissenschaft tatsächlich die erste Wahl. Mein frühes Erlebnis mit „Rigoletto“ dürfte ebenfalls prägend gewesen sein, so dass die Theaterwissenschaft ebenso zu meinen Fächern zählte. Dies ergab sich sicher auch aus intensivem Interesse und Teilnahme am Berliner Theaterleben.

Die Sopranistin Monika Rydzkowski zusammen mit einem Kollegen während einer Konzertmatinee des Projektes „Auf flügeln der Musik“. Konzertant präsentiert wurde eine Szene aus Mozarts Oper „Die Zauberflöte“.Foto: Egbert Trogemann

Was macht ein Dramaturg?

Der Begriff „Dramaturg“ als solcher ist eine typisch deutsche „Erfindung“, wie wir ihn von Lessing und seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ her kennen. Im englischen Sprachraum gibt es einen solchen Begriff nicht - dort spricht man eher von „Artistic Planner“ oder „Creative Producer“. Hierzulande haben die Dramaturgen meist einen geisteswissenschaftlichen Hintergrund. „Dramaturgie“ hat jedenfalls immer etwas mit Struktur und Gestaltung zu tun. Gemeint ist dann schon einmal die Struktur eines Dramas, dass also ein Dramaturg Stücke selbst schreibt oder bearbeitet. Seine Aufgabe kann aber auch darin bestehen, ein fertiges Theaterstück als Ganzes mit allen möglichen kommunikativen Mitteln an die Öffentlichkeit zu bringen - wie Gestaltung und Redaktion der Programm- und Spielzeithefte oder der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Im weitesten Sinne geht es also um kommunikative, sprachliche Gestaltung in einem Stück - oder drum herum.

Und der Musik-Dramaturg?

Die Aufgabe des Dramaturgen kann man genauso gut auf Musikstücke übertragen: Auch das Programm eines Konzertes oder einer Konzertreihe sollte einen wohlkomponierten Aufbau haben. Was soll ein Konzert, eine Serie oder auch das Programm einer Spielzeit in einer Stadt oder im Portfolio eines Konzerthauses bewirken? Das sind alles wichtige Entscheidungen auch zusammen mit den Künstlern. Und dann geht es darum, wie man diese Konzepte und Pläne kommunikativ nach draußen trägt. Das beinhaltet eine große Vielfältigkeit, die sogar auch - wie etwa bei mir - die Produktion mit einschließen kann. Das hängt nun mal mit meiner engen Verbindung von Theorie und Praxis zusammen.

Sie sind beratende Musikwissenschaftlerin. Auf Ihrer Homepage haben Sie für Ihre Arbeit programmatische Begriffe gewählt: „Beratung - Coaching - Kreative Konzepte“. Können Sie das ein wenig erklären?

Das sind drei Begriffe, weil ich wohl Dreiklänge mag. „Beratung“ deckt im Wesentlichen jene Arbeitsfelder im Management ab, die ich bis 2012 an der Tonhalle Düsseldorf betreut habe. „Coaching“ wiederum ist eine bestimmte Methode, die darin besteht, dass man als Coach nicht die eigenen Vorstellungen und Vorlieben anderen Personen oder Institutionen aufoktroyiert, sondern dass man schaut, mit welchen Ideen und Konzepten die Klienten sich bei mir melden. Und es sind in der Regel diese eigenen Ansätze der Klienten, aus denen man zusammen neue und in sich stimmige Konzepte entwickelt und bündelt. Es sei denn, dass man explizit um einen Rat gebeten wird, der dann in Eigenverantwortung geprüft und umgesetzt werden kann. Gerade in der Zusammenarbeit mit Künstlern hat es sich aber als sehr sinnvoll erwiesen, möglichst nichts Fremdes aufzuzwingen, sondern das ureigene Potential zur Sprache zu bringen und mit Hilfe von Konzepten und Techniken zu fördern. Nur so entsteht ein Verständnis von der eigenen fachlichen Identität, mit der sich dann der Klient im Außenauftritt präsentieren kann. Dies ist übrigens auch eine Grundhaltung, mit der man Menschen mit Demenz begegnen sollte.

Sie sind Lehrbeauftragte an der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf. Welche Inhalte und Kompetenzen vermitteln Sie Ihren Studenten?

Einmal vermittle ich den Studenten Grundlagen der Musikwissenschaft, insbesondere des Musiktheaters. Darüber hinaus biete ich einen Management-Kurs an, in dem völlig praxisorientiert Bewerbungs- und Präsentationsfragen behandelt werden, wie auch Einschätzungsmöglichkeiten des Musikmarktes. Alles in allem ist das also eine Art Gebrauchsanleitung für das Leben danach - nach dem Studium. Der Weg als Künstler kann aber nicht heißen, wie komme ich in ein gewisses Marktsegment hinein - sondern was ist an mir authentisch, wo sind meine Stärken? Es bedarf also der Bewusstseinsbildung: Welches Repertoire passt zu mir und zu einem möglichen Veranstalter? Erst mit diesem kritischen Selbstbewusstsein kann ich auf mich aufmerksam machen: Wo ist eine Marktnische? Wo genau passt mein Profil und wo wird meine Leistung gebraucht? So etwas diskutieren wir auch sehr oft im Vergleich anhand von so konträren Vermarktungsbeispielen wie etwa David Garrett oder Cecilia Bartoli.

Während eines Konzertes: Beflügelnd und inspirierend kann das Thema „Demenz und Musik“ immer dann wirken, wenn ein Mensch mit Demenz in seiner ganzen Persönlichkeit angesprochen wird.Foto: Egbert Trogemann

Können Sie die Begriffe „Demenz“ und „Alzheimer Krankheit“ definieren und voneinander unterscheiden?

„Demenz“ ist keine Krankheit, sondern ein Sammelbegriff für viele Symptomfelder, die durch verschiedene Krankheiten hervorgerufen werden können. „Alzheimer“ ist dabei eine häufige Ursache, was man dann oft im alltäglichen Sprachgebrauch als „Demenz“ bezeichnet. Das heißt: Etwa zwei Drittel der Menschen mit Demenz in Deutschland leiden an der Alzheimer Krankheit. Daneben gibt es noch weitere Ursachen wie Vaskuläre Demenz und andere Krankheitsbilder, oder auch Mischformen mit Parkinson, Depressionen, Alkohol- und Medikamenten-Missbrauch. Es gibt also viele Krankheiten, die das Symptomfeld „Demenz“ erzeugen können.

Wie würden Sie das aufgeklärte und humanistische Verständnis von Demenz bei Tom Kitwood und Arno Geiger beschreiben?

Tom Kitwood war ein sehr einflussreicher Psychologe und Pflegewissenschaftler in Großbritannien. Mit ihm hat sich eine Forschergruppe an der Universität Bradford bemüht, Demenz aus dem rein technokratischen Verständnis der klassischen Medizin herauszuführen. Die Diagnose-Möglichkeiten bei Demenz sind außerordentlich schwierig. Ich erinnere an eine Langzeitstudie in den USA mit Nonnen, die man bis zu ihrem Tod begleitet und beobachtet hat. Dann hat man sie mit ihrem Einverständnis obduziert. Das Erstaunliche war dabei die Feststellung, dass manche dieser Frauen die typischen Ablagerungen (Plaques) im Gehirn hatten, ohne jedoch vorher durch Alzheimer-Symptome aufgefallen zu sein. Andere Obduktionsbeispiele mit Ablagerungen hatten sehr wohl Alzheimer-Anzeichen und wieder andere hatten keine dieser Merkmale. Für eine exakte Diagnose sind diese Schilderungen alles andere als eindeutig.

Wie interpretierte Tom Kitwood dieses Ergebnis?

Kitwood schloss daraus, dass die biomedizinische Diagnose allein nicht ausreicht, um sinnvolle Behandlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Er wies auf die sogenannte „Sozialpathologie“ und „Sozialpsychologie“ als fundamentale Einflussfaktoren hin. Er machte also darauf aufmerksam, dass auch die soziale Umgebung eines Menschen eine Demenz vollständig oder zumindest teilweise beeinflussen kann. Mit ursächlich ist auch das Lebensalter eines Menschen: Je älter er ist, desto höher ist das Risiko, an Alzheimer zu erkranken. Bei den Menschen über 90 ist es jeder Dritte, der davon befallen wird.

Hat man diese Symptome früher anders gedeutet?

Früher waren die Familienverbände dauerhafter und größer, so dass solche Erscheinungen von der Familie abgefangen werden konnten. Es hieß dann: „Der Opa ist tüdelig“ - und damit war das Problem erledigt, weil ja Angehörige da waren, die sich um ihn kümmerten und in die Familie einbezogen. Fehlender Sozialkontakt, fehlende Aufgaben und keine Teilhabe sind nun mal das größte „Gift“ für einen alleinstehenden alten Menschen. Aus all dem hat Tom Kitwood den damals revolutionären Schluss gezogen, dass Menschen mit Demenz nicht als defizitäre Subjekte anzusehen sind, sondern dass sie als Personen er- und anerkannt werden und entsprechend behandelt werden müssen. Wenn jemand seine Angehörigen nicht mehr erkennt, oder sich nicht mehr an seine Biografie erinnert, hat er - rein medizinisch gesehen - keine Identität mehr, was Kitwood zum heftigen Widerspruch provozierte. Er sagte, egal welche Symptome ein Mensch hat, wir müssen mit ihm als Ärzte, Pfleger oder Angehörige immer mit seiner ganzen Person umgehen. Und erst aus diesem Ansatz konnten sich dann alle Projekte in der Begegnung von Demenz und Kultur wie „Auf Flügeln der Musik“ entwickeln - als Ergänzung zur klassischen Medizin.

Was kann dennoch „gegen“ Demenz unternommen werden?

In dieser momentan wenig aussichtsreichen Lage geeigneter medikamentöser Therapien haben sich Konzepte ergeben, deren Ziel nicht die Heilung ist, sondern dass danach gefragt wird, wie man Menschen mit Demenz das Leben erleichtern kann - und: wie sich die Umgebung, wie Angehörige oder Pfleger mit einbeziehen lassen. Das ist der Punkt, wo für mich auch so etwas wie eine kulturpolitische Verantwortung beginnt und Kunst und Kultur sehr wichtig werden. Hierbei ist (auf jeden Fall für mich) die Funktion von Musik von ganz besonderem Interesse: Für die Betroffenen geht es dann darum, die archaische und ursprünglich heilsame Kraft der Musik wieder erleben und entdecken zu dürfen. Musik wird hier oft auch als der „Königsweg“ der Kommunikation bezeichnet. Vereinfacht lässt sich dadurch erklären, dass man die Musik mit allen Sinnen, emotional und auch rational erfassen kann. Eine Klaviersonate von Mozart oder Beethoven kann man hören, ohne jemals Zugang zur klassischen Musik gehabt zu haben. Beim Hören landet sie erst einmal im auditiven Zentrum, aber dann werden noch weitere (bis zu zehn) Gehirnregionen angesprochen, welche z.B. die Emotionen, körperliche Gefühle, den visuellen Sinn, die strukturelle Kompetenz oder die Erinnerung betreffen, geschweige denn kognitive Bereiche wie das Wissen über die Sonatenform oder die Biografie eines Komponisten.

Auch wenn seine Identität im äußeren Auftritt nur „verschleiert“ erscheint, bleibt sie hinter dieser unfreiwilligen Maske dennoch vollkommen – und ist anwesend.Foto: Egbert Trogemann

Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang das Buch von Arno Geiger?

Arno Geiger ist österreichischer Schriftsteller und hat in einer Art Erzählungsband die Entwicklung der Demenz seines Vaters anhand vieler Beispiele eindrücklich geschildert. Aus anfänglichem Unverständnis, Verzweiflung oder sogar Wut entwickelte sich im Laufe der erzählten Zeit ein höchst liebevoller Umgang zwischen Vater und Sohn. Im Ergebnis sind es praktisch dieselben Erkenntnisse wie bei Kitwood, dass nämlich der Mensch mit Demenz nur als ganze Person wahrgenommen und verstanden werden kann. Geiger wie auch Kitwood berichten fast übereinstimmend von dem bisweilen sogar inspirierenden Einfluss dieser Menschen!

Was interessiert und fasziniert Sie an dem Thema „Musik und Demenz“, welche Projekte und Erfahrungen haben Sie hierzu gemacht?

Da nenne ich gerne zwei Projekte, bei denen ich mitarbeite: „dementia+art e.V. Kulturelle Teilhabe für Ältere und besonders für Menschen mit Demenz“ in Köln und „Auf Flügeln der Musik - Konzertprogramme für Menschen mit Demenz“, das vom Institut für Bildung und Kultur e.V. IBK in Remscheid initiiert wurde. Diese Projekte mit ihren Angeboten und Aktivitäten sind selbstverständlich auch keine Therapien, aber sie sind geeignet, Zugänge zu früheren Ressourcen eines Menschen mit Demenz, also durch Beschäftigungen mit Kunst (hier besonders Musik) und Kultur wieder zu wecken und damit diesen Menschen zu einer verbesserten oder gar neuen Lebensqualität zu verhelfen. „Erwecken“ heißt ja dann auch, die „verschleierte Identität“ (Kitwood) eines Menschen nach Möglichkeit wieder sprachfähig zu machen und ihn wieder aktiv und kommunikativ in den Alltag einzubeziehen. Dies zeigt uns auch sehr deutlich, dass der Mensch ganz wesentlich ein Beziehungswesen ist.

Wie verhalten sich eigentlich Menschen mit Demenz in Konzerten?

Monika Rydzkowski: Wenn wir auf solche Begegnungen mit Menschen mit Demenz vorbereitet werden, heißt es oft, dass solche Menschen eventuell lauter sprechen, vielleicht auch mal um Hilfe rufen und sich körperlich selbst spüren möchten. Tatsächlich aber, wenn man sich mit ihnen beschäftigt und sich ihnen zuwendet, sind sie auf einmal sehr still und hören zu, was Angehörige oder das Pflegepersonal dann sehr überrascht, weil sie diese Personen gar nicht mit diesem Verhalten kennen. Diese Menschen singen sehr gerne mit, wie etwa beim „Kriminaltango“, den die Leute sehr lieben, weil sie ihn vor langer, langer Zeit gehört und verinnerlicht haben. Außerdem versuchen wir mit unseren Programmen, verschiedene Geschmacksrichtungen anzusprechen. Dadurch erzeugen wir ein großes Miteinander. So erinnere ich mich an eine alte, bettlägerige, nicht weiter ansprechbare Dame, die bei unserem Konzert plötzlich alle Titel mitsang, auch wenn man sie nicht weiter verstehen konnte. Sie hat alles wieder erkannt! Bei unseren Konzerten können wir oft erleben, wie die Musik ganz unmittelbar wirkt.

Martin Zimny: Als Musiker fragen wir uns bei Konzerten mit und für demente Menschen oft, was wir den Leuten überhaupt zu Gehör bringen wollen. Natürlich möchten wir auch unsere originäre Musik spielen, die wir im Repertoire haben. Aber wir müssen davon ausgehen, was sie eigentlich gerne hören wollen. Das Beste ist dann immer eine Mischung: Mit unserem Repertoire konnten wir diese Menschen einerseits mit Beispielen ein wenig fordern, die sie nicht kannten. Andererseits haben wir uns aber eingehend erkundigt, welche Musik sie interessieren könnte.

Was lässt sich an Musikarbeit für Menschen mit Demenz alles realisieren?

Zur aktiven Musizierpraxis gehört etwa der Einsatz von Klangschalen in der klassischen Musiktherapie, aber auch Instrumente wie das „Hang“, die Veeh-Harfe oder das Orff Schulwerk. In speziellen Einrichtungen nutzt man diese Möglichkeiten vor allem in Gruppen. Dann besteht die Möglichkeit, dass an Demenz erkrankte Menschen zusammen mit Musikern arbeiten. Ich erinnere an ein Projekt wie „Music for Life“ der Wigmore Hall London, das inzwischen auch nach Holland übertragen wurde, in dem drei Profi-Musiker in eine Einrichtung gehen und zusammen in einer Gruppe von sechs bis acht Personen mit Demenz vor allem auch improvisatorisch zusammen musizieren. Prinzipiell sind dann drei bis fünf Betreuer anwesend, die aktiv an der Arbeit teilnehmen.

Auch das ist möglich: Im Rahmen des Projektes genießen Menschen mit Demenz einen Konzertbesuch in der „Düsseldorfer Jazzschmiede“.Foto: Egbert Trogemann

Ist das mit Ihrem Projekt „Auf Flügeln der Musik“ zu vergleichen?

Ja und Nein. Im Projekt „Auf Flügeln der Musik“ geht es um kulturelle Teilhabe im rezeptiven Sinne. Hier hat die Erfahrung gezeigt, dass es durchaus möglich ist, zusammen mit einer Gruppe an Demenz erkrankter Menschen ganz reguläre Konzerte oder Generalproben zu besuchen. Das muss natürlich entsprechend vorbereitet, begleitet und nachbereitet werden. Dabei werden mögliche „Stolpersteine“ wie Ängste, Hemmungen, Reizüberflutung und Desorientierung schon bei der Vorbereitung ins Kalkül gezogen. Ziel muss schließlich das „inklusive Konzert“ sein, das jeder besuchen kann und wo sich jeder wohl fühlt. So ist es möglich, vorübergehend für „geschützte Räume“ zu sorgen. Denn diese Menschen, die aus ihrer gewohnten Umgebung herauskommen, können schnell mutlos werden und die Orientierung verlieren.

Und wie ließe sich das Teilkonzept der kulturellen Teilhabe auch für einen Einzelnen musikalisch realisieren?

Da gibt es schon ganz einfache Mittel. Als Pfleger oder Angehöriger kann man sich danach erkundigen, welche Musik der betreffende Mensch früher gerne gehört hat. Daraus lässt sich dann z.B. eine Playlist auf einem iPod zusammenstellen. Hierzu gibt es ein interessantes Video im Internet von Oliver Sacks, dem britischen Neurologen und Schriftsteller, in dem von einem älteren Afroamerikaner berichtet wird, der als ursprünglich jazzbegeisterter Mensch nach dem Hören „seiner“ alten Jazzmusik plötzlich wieder zu sprechen anfängt.

Vor ein paar Tagen haben Sie einen Kongress in Den Haag besucht, worum ging es da?

„Long Live Arts“ lautete der Titel dieses Kongresses, wo Demenz nur ein Thema von vielen war. Im Zuge der demografischen Entwicklung ging es hier darum, älteren und alten Menschen insgesamt mehr Raum in Kunst und Kultur zu bieten. Da können dann auch alte Sänger oder Tänzer auf der Bühne stehen. Es gibt aber auch Menschen, die mit 50 oder 60 beschließen, noch einmal ein Instrument zu lernen, oder sich künstlerisch zu betätigen. Diese Überlegungen haben ganz handfeste Gründe, weil in einer alternden Gesellschaft die Beschäftigung mit Kunst und Kultur mitunter einen sehr positiven Effekt auf das Wohlbefinden dieser Menschen hat. So hat die Statistik nachgewiesen, dass sich durch solche Aktivitäten auch Krankheitskosten senken lassen. Politiker können dann schon einmal auf die Idee kommen, dass Kultur hier so etwas wie Prävention bedeutet. Das hört sich zunächst etwas plakativ und vereinfachend an, dürfte im Kern aber durchaus zutreffen.

Wie steht es in diesem Zusammenhang mit dem Begriff „Wohlbefinden“?

Jemand, der sich wohl fühlt, ist bei sich zu Hause, ist bei sich selbst angekommen. Im Projekt „Auf Flügeln der Musik“ haben wir mit sogenannten „Wohlbefindens-Indices“ (WBI) gearbeitet. Dabei zeigte sich, dass zwei Drittel der Menschen mit Demenz die Teilnahme am Konzert sehr genossen haben (im oberen Drittel der WBI-Skala). Das Pflegepersonal berichtete, dass viele Besucher sich selbst Tage nach dem Konzert noch wohl fühlten und ausgeglichen waren - auch wenn sie vielleicht gar nicht mehr wussten, dass sie im Konzert waren.

Sie arbeiten auch an einem Projekt mit dem Göttinger Symphonie Orchester?

Das Göttinger Symphonie Orchester bringt als reines Konzertorchester bereits ein breit gefächertes Angebot in das kulturelle Leben der Universitätsstadt Göttingen ein. Außerdem ist es das „Reiseorchester Niedersachsens“. Es widmet sich seit Jahren mit großem Erfolg neuen Besuchergruppen. Besonders für die Zielgruppen Kinder, Jugendliche, Behinderte sowie ältere Mitbürger werden Konzerte in Kindergärten, Schulen, Krankenhäusern und Altersheimen in und außerhalb Göttingens angeboten. Ein spezielles Programm für Menschen mit Demenz soll in der nächsten Spielzeit realisiert werden - in einem weiteren Schritt in der übernächsten Saison dann in weiteren Städten Niedersachsens. Ebenso ist die Universität Göttingen an einer wissenschaftlichen Begleitung interessiert.

Ausgezeichnet mit dem BKM-Preis Kulturelle Bildung 2014 für das Pilotprojekt „Auf Flügeln der Musik“: (v. l. n. r.) Monika Grütters, Elisabeth von Leliwa, Anja Renczikowski, Almuth Fricke und Rainer Peters bei der Preisverleihung.Foto: René Arnold

Wie steht es mit solchen Überlegungen in Düsseldorf?

Im Rahmen des Projektes „Auf Flügeln der Musik“ hat es hier in den letzten Jahren bereits einzelne erfolgreiche Konzertbesuche und Aktionen gegeben. Die Deutsche Oper am Rhein prüft gerade die Möglichkeit einer Öffnung ihres Konzertangebots für Menschen mit Demenz. Eine Vertiefung und Bündelung von Angeboten ist in Neuss als Kooperation zwischen den St. Augustinus-Kliniken, der dortigen Musikschule und der Deutschen Kammerakademie geplant. Das Memory-Zentrum der St. Augustinus-Kliniken, das im Herbst 2015 eröffnet wird, bündelt medizinische Diagnostik, ambulante sowie stationäre Versorgung, psychiatrische Expertise und präventive Angebote zum Wohl der Erkrankten unter einem Dach. Dabei wird das Zentrum auch Forschungsstandort werden. Und die Musik soll dabei ebenfalls eine bedeutende Rolle spielen.

Welche beraterischen und wissenschaftlichen Aspekte und Projekte könnten in Zukunft für Sie interessant sein?

Meine Beschäftigung mit „Demenz und Musik“ wird immer intensiver und umfangreicher, womit ich vor ein paar Jahren in gar keiner Weise gerechnet hatte. Ich könnte mir deshalb in Zukunft weitere Arbeiten im Bereich musikpsychologischer Forschung vorstellen - vielleicht auch im Zusammenhang mit dem Göttinger Projekt. Hier interessiert mich der Aspekt, wie sich die Musik-Wahrnehmung angesichts des kognitiven Defizits bei Menschen mit Demenz darstellt und ausprägt. Aber auch das Thema „Musik und Wohlbefinden“ dürfte mich weiter beschäftigen.

Impulse aus dem Publikum: Hier ging es um Fragen der Inklusion, und inwiefern Demenz durch Musik gelindert oder gar verhindert werden könne. Während positive Hinweise zur Inklusion bereitwillig gegeben werden konnten, mussten kausalbezogene Hoffnungen auf Heilung durch Musik - zumindest in der unmittelbaren Gegenwart - leider verneint werden. Dabei wurde auch vor einer einseitigen „Verzweckung“ von Kunst und Kultur gewarnt. Ein interessanter Beitrag aus kirchenmusikalischer Sicht erweiterte in einer Art „spirituellen Verlängerung“ das Thema „Demenz und Musik“ um die besondere Reichweite und Chance der Kirchenmusik, da diese an institutionelle und einzelbiografische Rituale (Biblische Geschichten, Kirchenjahr, Lebensabschnitte) gebunden ist.

Interview mit Elisabeth von Leliwa in der Reihe „Musik im Gespräch!“ am 26. Mai 2015 in der Düsseldorfer Musikbibliothek.

Das Gespräch führte
Prof. Dr. Hartwig Frankenberg


LITERATURHINWEISE

Tom Kitwood: Demenz. Der person-zentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen (6. Auflage, Bern 2013)

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil (München 2011)


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