Konzertkalender in+um Düsseldorf

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Editorial

Wie sich himmlisches Donnergebraus in weltliche Klänge verwandeln kann!

Wie sich himmlisches Donnergebraus in weltliche Klänge verwandeln kann!

Prof. Dr. Hartwig Frankenberg
Prof. Dr. Hartwig Frankenberg

Ideen für Neues kommen oft überraschend auf uns zu. Unvorbereitet, irritiert oder gar dankbar bringen wir den Geistesblitz für einen Textanfang zu Papier. Es geht auch anders, wenn – wie in den Märchen – kesse Frösche plötzlich zu sprechen beginnen, in den Weltenlauf eingreifen, weise Frauen einen drohenden Fluch aussprechen oder würdige Männer einen unwiderruflichen Befehl erteilen. Auf einsamen Bergen oder in entrückten Wüsten kann sich das Numinose ebenso wortstark an brennenden Hecken mitteilen oder als Traumgesicht in der Nacht zeigen. Immer sind es Prophezeiungen oder Visionen, die eine völlig neue Ordnung beanspruchen und keinerlei Widerstand oder Aufschub dulden!

So begründeten hunderte von mehr oder weniger spektakulären Erweckungen und Offenbarungen nicht nur ganze Mythen und Religionen. Auch komplette Kulturstränge haben mit ihnen bis ins gegenwärtig-praktische Leben hinein ihre konkreten Spuren hinterlassen. Schönes Beispiel einer solchen Absenkung ins Weltliche, Materielle, ja Werkzeugliche ist ein weniger bekanntes Instrument der indischen Musik. Es ist die Shruti-Box! So soll auf den folgenden Zeilen einmal in aller Kürze die Bedeutungs- und Kulturgeschichte des Wortes Shruti – gleichsam als verbale Schöpfungsgeschichte – auf dem Weg von der Idee bis zu dem sie verkörpernden Gegenstand durchdekliniert werden.

Das Wort selbst kommt aus dem Sanskrit und bedeutet im Hinduismus ursprünglich „das Gehörte“ im Sinne von Offenbarungen heiliger Schriften. Sie gelten als verbindliche Weisheiten, die von keinem menschlichen Verfasser stammen, sondern von der göttlichen Sphäre (Brahman) als „Gehörtes“ irgendwann empfangen wurden. Dass die Texte eher als Hör-Medien verstanden wurden, weist hin auf die Bedeutung der höchst spirituellen Eingebung im Vergleich zum Niederschreiben, das sich in Indien erst relativ spät entwickelte.

Oder wurden die Offenbarungen etwa gesungen? Weil Shruti ebenso auch „Ton“ heißt und damit die 22 Mikrointervalle bezeichnet, mit denen in der indischen Musik eine Oktave unterteilt wird. Während das temperierte Tonsystem der westlichen Musik die Oktave (Frequenzverhältnis 2:1 zum Grundton) in 12 gleich große Halbtonschritte trennt, teilt die indische Musiklehre die Oktave in 22 ungleich große Shrutis, die alle kleiner sind als ein Halbtonschritt, was in westlichen Ohren durchaus schräg klingen und die Kreativität anregen kann (s.u.)! Die Lehre der 22 Shrutis taucht erstmals in einem von dem sagenhaften Natyashastra verfassten Werk auf, in dem die Grundlagen der altindischen Musik zusammengestellt sind. Im musikalischen Sinne bezeichnet Shruti in der indischen Musiktheorie dann generell den Grundton (der Tonika vergleichbar) – oder wie auf unseren westlichen Klavieren das „Schloss-C“!

Auch jedes Musikinstrument, das solche Grundtöne als Dauertöne (Borduntöne) erzeugt, heißt Shruti – ebenso die bereits erwähnte Shruti-Box, einem Musikinstrument in Größe und Gestalt eines Aktenkoffers – gelegentlich sogar mit Henkel oben drauf! Ob Sie damit auch zur Bank gehen können, um einen kostengünstigen Kredit zu ergattern, ist bisher nicht überliefert! Das leicht transportable Gerät wird nicht nur in der indischen Musik zur Begleitung von volkstümlichen oder meditativen Gesängen verwendet. Man hat es auch schon im westlichen Jazz und in der Mittelalter-Musik gehört und gesehen:

Die Shruti-Box verfügt – ähnlich einer Mundharmonika – über sogenannte Durchsschlagszungen, die mittels zweier von Hand betätigten, klappenförmigen Blasebälgen mit Luft versorgt werden. Der Tonumfang beträgt eine Oktave. Die gewünschten Töne, deren Klappe geöffnet wird, erklingen dann als Dauertöne. Das charmante Gerät kann man übrigens schon für ca. 300 Euro im Internet oder auf Mittelaltermärkten käuflich erwerben. Die Schöpfungsgeschichte dieses Instrumentes ist sehr lang, endet aber in unserer dinglichen, profanen Welt!

Wir haben uns diesmal als Bildrätsel auf der Titelseite des vorliegenden „Konzertkalenders in+um Düsseldorf“ für Shruti als altindischem Schriftzeichen entschieden. Michel Schier hat es in sehr einfühlender Weise aufgenommen und gestaltet. Der flammfarbene Untergrund des Zeichens symbolisiert sehr gut seine semantische Vielfalt samt Kulturgeschichte und kontrastiert überaus harmonisch mit dem Schwarz der quadratischen Fläche, das an die Unendlichkeit erinnern mag!

Der Düsseldorfer Komponist und Sänger Martin Wistinghausen (www.martinwistinghausen.de) hat vor einiger Zeit begonnen, auch die Shruti-Box in seinen Bass-Solo-Abenden einzusetzen und wird darüber und über vieles andere im Interview ausführlich berichten. Aus Corona-bedingten Gründen können wir das Gespräch leider nur als Lesetext – aber mit vielen praktischen Musikbeispielen – präsentieren!

Völlig unabhängig von allen Corona-Deformationen bewegt sich die publizistische Absicht des „Konzertkalenders in+um Düsseldorf“ weiterhin einmal mehr als erfolgreiche Drehscheibe für hunderte professionell arbeitende Musiker in und um Düsseldorf! Oder sind es gar mehr? Ich habe sie noch nicht gezählt!

Herzliche Grüße –


Prof. Dr. Hartwig Frankenberg

Editorial

Titelgrafik: Michel Schier, Düsseldorf